Ein Gastbeitrag von Bettina Bogner-Lipp, MA (Gerontologie)
Menschen mit Demenz sind Menschen. Menschen, die ein Universum an gelebtem Leben, an Gefühlen und Bedürfnissen bergen, ganz, wie jeder andere Mensch auch.
Ich habe von Menschen mit Demenz am meisten gelernt, erlebt und durch sie erfahren. Vor allem habe ich ihre Wahrhaftigkeit und Herzensweisheit zu schätzen gelernt. Mich klarer auszudrücken haben sie mich gelehrt und dass es ok ist, wie ich bin und ich sogar keine andere Chance habe, als die zu sein, die ich bin, weil jeder Versuch, etwas zu überspielen oder vorzutäuschen augenblicklich entlarvt wurde. Die Kommunikation mit Menschen mit Demenz nach den Grundsätzen der Validation, so erkannte ich, empfiehlt sich mit jedem Menschen. Wahrnehmen, ernst nehmen. Nicht nur Menschen mit Demenz leben in ihrer eigenen Welt! Ich habe gelernt, die große Bandbreite an menschlichen Gefühlen ohne Wertung anzunehmen und für die Kommunikation zu nützen. Ich lernte verschiedene Arten von Humor kennen und auch ein regelmäßiges Scheitern im Bemühen, in Kontakt zu kommen oder etwas zu bewirken. Scheitern und Kritik annehmen zu lernen von Menschen, die hinter Fassaden zu spüren imstande sind, Fehler vergessen und im nächsten Moment schon wieder eine neue Chance geben, ist wahrhaft ein Geschenk.
Menschen mit Demenz haben mir vorgelebt, im Augenblick zu sein und dass dieser Augenblick auch in einer anderen, vergangenen Zeit stattfinden kann und trotzdem echt ist. Wiederholungen, Warten oder langsames Gehen können auch als Zeitgeschenk empfunden werden. Hemmungen, zu singen und zu tanzen habe ich abgelegt und erlebt, dass es ums Tun geht, nicht um richtig oder falsch.
Dass am Ende kein Karriereweg, keine materiellen Errungenschaften und kein erworbenes Wissen glücklich macht, sondern längst vergessene Lichtmomente des Lebens, die zu sammeln wichtiger ist als vieles andere. Momente, in denen das Herz gelacht hat, kehren im Alter zurück. „Ich habe mit einer Freundin eine Bergtour gemacht und eine Ziege ist bis auf den Gipfel mitgegangen“, sagte eine alte Dame jedes Mal, wenn wir uns trafen. Weihnachten fand für mich im Seniorenzentrum statt, einem Tag der gemischten Gefühle für die alten Menschen, und allein an der Art und Weise, wie die Menschen mit Demenz in der nachmittäglichen Mitternachtsmette die puppengroßen Krippenfiguren entgegennahmen und hielten, erschlossen sich mir ein annehmbarer, verinnerlichter Sinn von Weihnachten und eine trostspendende Spiritualität. Gleichermaßen fühlte ich mich privilegiert, in vielen letzten Wochen, Tagen und Stunden auch die Gesichter des Schmerzes, des Widerstands, der Auflösung, aber auch der Dankbarkeit zu sehen, die Kräfte des Todes und die Erlösung im Hinübergehen – nicht, weil es angenehme Erlebnisse waren, sondern weil es zum Leben gehört.
Die Frage, was Menschen mit Demenz beitragen können, was sie noch wert sind, wo sie doch in der – nicht laut ausgesprochenen – Ansicht vieler nichts mehr leisten, ist hier sehr persönlich beantwortet.
Global gesehen zeigen Menschen mit Demenz einer Welt, in der alles machbar erscheint, dass die gefürchtete Unperfektheit und Unkontrollierbarkeit zum Leben jedes einzelnen wie der gesamten Gesellschaft gehören. In vielen, aber jedenfalls in diesen Eigenschaften sind sie „voll da“, mutig, unbeugbar und voller Eigensinn. Sie erinnern an die Kraft von Gefühlen, wo diese im Ziel, bestmöglich zu funktionieren, untergehen. Sie zeigen den fragwürdigen Wert von materiellen und ideellen Errungenschaften im Vergleich mit dem Wert eines Augenblicks. Genau hier findet Leben statt, wenn es gelingt, sich zu begegnen.